Welches Ereignis hat Sie seit der Unterzeichnung des Vertrags von Rom am meisten geprägt?
Etienne Davignon, Kommissar für Binnenmarkt, Zollunion und Industrie (1977‑85) und Vizepräsident (1981‑85).
Etienne Davignon: Das Ereignis, das mich am meisten geprägt hat, ist ohne Zweifel das Symbol der Europäischen Union – der Euro. Mit seinem Eintritt in unser tägliches Leben wurde die Veränderung, die die europäische Integration mit sich bringt, erst richtig deutlich. Wie wir aus den Geschichtsbüchern wissen, zählt die Währung zu den Elementen eines Staates. Millionen von Europäern haben eine neue Seite in ihrer Geschichte aufgeschlagen und teilen nun eine gemeinsame Währung – den Euro –, Symbol der Einheit unseres Kontinents, der lange Zeit durch Kriege zerrüttet war. Für mich ist dies das deutlichste Zeichen der Veränderungen, die der Vertrag von Rom mit sich gebracht hat. Mit der Einheitswährung haben die Europäer einen bemerkenswerten Präzedenzfall geschaffen: eine Union, die auf dem gemeinsamen Willen ihrer Mitgliedsländer aufbaut.
Frans Andriessen, Kommissar für Wettbewerb (1981-1985), Landwirtschaft und Außenbeziehungen/Handelspolitik (1985-1993).
Frans Andriessen: Zweifellos waren dies der Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 und die Perspektiven, die sich daraus für die Weiterentwicklung der Europäischen Integration auf unserem Kontinent ergaben, die deutsche Wiedervereinigung, das Ende des Warschauer Pakts und der Sowjetunion – auch wenn zu diesem Zeitpunkt der Begriff Europäische Union noch nicht offiziell angenommen war. Leider war unsere Vorgehensweise bei der Umsetzung der Erweiterungsstrategie dem tatsächlichen Ausmaß der Probleme nicht ganz angemessen. Wir haben uns vor allem zu sehr auf die Erweiterung und zu wenig auf die Vertiefung konzentriert. Dies ist auch der Grund, warum wir uns – im institutionellen Sinne – in einer Art Sackgasse befinden. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die Erweiterung ein historischer Augenblick war – für Europa, die Europäische Integration und die Welt.
Ihre Wünsche für die europäische Familie für die nächsten 50 Jahre?
Etienne Davignon: Ich wünsche uns für die nächsten Jahre, dass die europäischen Staaten Vertrauen in das Projekt Europa und den Ehrgeiz behalten, die diesem Projekt seit den 50er-Jahren zugrunde liegende Idee zu verwirklichen, d. h. dass sie gemeinsam und solidarisch handeln und nicht fatalistisch an die Sache herangehen.Wir möchten Einfluss auf unsere Zukunft nehmen und uns nicht den Ereignissen und dem Schicksal beugen –wenn wir dieses Ziel im Auge behalten, können wir uns über die Themen und Bereiche klar werden, die wir gemeinsam angehen müssen.Wir brauchen ein übergeordnetes Ziel, nicht nur Einzelziele. Unser Hauptziel ist: weiterhin gemeinsam handeln, um Einfluss auf die Welt nehmen zu können, die wir unseren Nachkommen hinterlassen.Unser Europa ist eine Wertegemeinschaft – ihre Vielfalt ist keine Bürde, sondern ein Vorteil.Wir teilen alle den Wunsch, ein Europa aufzubauen, das sich gleichzeitig auf Einheit in Vielfalt, wirtschaftlichen Fortschritt und soziale Gerechtigkeit stützt.Ein Europa, das auf die Errungenschaften aus 50 Jahren Solidarität und Integration aufbaut und enge Bande der Zusammenarbeit mit seinen Partnern knüpft.
Frans Andriessen: Die Welt ist heute so anders als noch vor 30 oder 40 Jahren!Mit der Globalisierung, der Entwicklung neuer Volkswirtschaften in China, Indien und Lateinamerika und dem Prestige- und Einflussverlust der USA vollziehen sich Entwicklungen heute viel schneller.In den kommenden Jahren wird sich die Welt radikal ändern, und es ist schwer, Vorhersagen zu treffen.Aber ich denke, dass die globalen Probleme wie Klima, Umwelt, Energie, Ressourcen und Wasser in naher Zukunft ein solches Ausmaß annehmen werden, dass die EU zu weiteren Integrationsschritten gezwungen sein wird – so wie sie in der ersten Zeit des europäischen Aufbaus zur Integration gezwungen war, um weitere Kriege zu vermeiden.Die Auswirkungen dieser enormen Gefahren für die Menschheit könnten uns mit dem Rest der Welt zusammenbringen, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen.Es ist eine Chance, wenn wir bereit sind, etwas dafür zu tun.Die Europäische Union hat sich nicht von alleine entwickelt.Sie war ein Akt der Willenskraft.Und wenn wir wollen, können wir es noch besser machen. Wenn wir die Herausforderung annehmen, die Welt für die Zukunft der Menschheit zu retten, können wir diesen Willen unter Beweis stellen.