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Europa hat Geburtstag! - 50. Jahrestag des Vertrags von RomLeiste für Sprachenauswahl ausblenden (Schnelltaste=2) 01/02/2008
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Beziehungen aufbauen – Verbindungen knüpfen

Beziehungen aufbauen – Verbindungen knüpfen
Hans-Gert Pöttering (MdEP), Präsident des Europäischen Parlaments, geboren in Bersenbrück (Deutschland)

12/10/07

Hans-Gert Pöttering (MdEP), Präsident des Europäischen Parlaments: Nur durch Kontakte, Dialog und den Austausch von Ideen zwischen EU-Bürgern, EU-Institutionen und den Partnern der EU kann das historische Projekt „Europäische Union“ erfolgreich sein.

„Ohne Vision sind die Völker dem Untergang geweiht.“ Dies hatte schon Jean Monnet im September 1939 erkannt. Doch für die 27 Mitgliedstaaten der heutigen Europäischen Union gilt vor allem eine Maxime: „Voneinander lernen!“ Kommunikation und verstärkter Gedankenaustausch werden der Schlüssel zu unserem Erfolg als Europäer auf dem Weg ins Jahr 2050 sein, etwa durch Kontakte zwischen jungen Menschen(Begegnungen auf Hochschulebene, Reisen, religiöse und ökumenische Veranstaltungen, Kunstfestivals), durch Kontakte zwischen Städten und Regionen oder in Form von Partnerschaften und gemeinsamen Projekten sowie Austauschveranstaltungen im Rahmen der Zivilgesellschaft. Wir müssen einander besser kennenlernen, um uns zu akzeptieren, uns mittels unserer Unterschiede gegenseitig zu bereichern und die Zukunft gemeinsam zu gestalten. Gleichzeitig müssen wir uns alle über das Wesentliche einig sein – nämlich die unverrückbare Vorstellung, dass alle Menschen unantastbar und von Geburt an frei sind und dieselben Rechte und Pflichten gegenüber der Schöpfung haben. Dabei müssen wir das Gemeinwohl im Auge behalten und die Werte bewahren, die in unserem jüdisch-christlichen Erbe zutiefst verwurzelt sind.

Wissenschaft und Menschlichkeit im Gleichgewicht

In den nächsten Jahrzehnten werden die Europäer Stellung beziehen müssen hinsichtlich der Konsequenzen, die sich – in immer kürzeren Abständen – aus den Fortschritten der Grundlagenforschung in der Biologie und den Biowissenschaften ergeben. Wir werden ethische Entscheidungen treffen und abwägen müssen zwischen der Notwendigkeit, der Medizin zur Linderung menschlichen Leidens alle Möglichkeiten zu eröffnen, und dem Gebot, die Grenzen abzustecken, innerhalb derer wirdefinieren, was unter dem Begriff „menschlich" zu verstehen ist. Ein solches Abwägen kann nur demokratisch erfolgen, sollte aber auch durchdrungen sein von der Weisheit geistlicher Institutionen, mit denen sich die Menschen identifizieren. Die in Teil II des Vertrags über eine Verfassung für Europa vorgesehene Charta der Grundrechte muss ergänzt werden, um unsere ethischen Werte auch in Anbetracht der Entwicklungen in der Biotechnologie in den kommenden Jahren berücksichtigen zu können.

Wissenschaft und Technik waren die Triebkräfte der Entwicklung der westlichen Gesellschaften und ihrer wirtschaftlichen und strategischen Stärke im 19. und 20. Jahrhundert. Im 21. Jahrhundertwerden sich die Errungenschaften von Forschung und innovativen Technologien auch auf anderen Kontinenten ausbreiten,vor allem im bevölkerungsreichen und pulsierenden Asien. Europa kann sich dem Wettlauf um Produktivität, Wettbewerbsfähigkeit und Verbesserung des Lebensstandards nicht entziehen. Meine Vision von Europa im Jahr 2050 basiert daher auf einer zweifachen Forderung:

Einerseits müssen wir weltweit dahingehend Einfluss nehmen, dass die natürlichen Ressourcen, die Umwelt und die biologische Vielfalt der Erde nicht durch rücksichtslose Ausbeutung dieser Reichtümer vernichtet werden. Der steigende Verbrauch von Erdöl und anderen Rohstoffen ist beunruhigend. Er kann Kriege zur Folge haben, die zunächst über Preise und später vielleicht mit Waffen ausgetragen werden. Auch die natürliche Knappheit der Ressource Wasser kann sich durch den Klimawandel sowie den rasanten Anstieg der Bevölkerung zunehmend verschärfen und wird die strategische Bedeutung des Wassers erhöhen, es zum Mittelpunkt neuer inner- und zwischenstaatlicher Konflikte werden lassen. Bei der Lösung dieser Probleme wird unsere Bereitschaft, Frieden zu stiften, in besonderer Weise herausgefordert werden.

Das Überleben der Menschheit wird morgen vielleicht gleichbedeutend sein mit unserem eigenen Überleben als sehr alte Völker dieses kleinen „Zipfels von Eurasien“, den Europa darstellt. Wenn Europa in den bestehenden internationalen Strukturen nicht mit einer Stimme spricht, wäre es dafür mitverantwortlich, falls die Welt langsam in die Anarchie abdriftet oder erneut Machtkämpfe aufflammen. Wenn nötig, muss Europa seine Macht dazu nutzen, auf internationaler Ebene das Entstehen von Regierungsformen zu stärken und zu fördern, die den künftigen Generationen eine optimale Bewirtschaftung der Ressourcen dieses Planeten sichern. Diese Forderung zieht die Schaffung einer europäischen politischen Autorität nach sich, die von den Menschen nachdrücklich legitimiert wird, in deren Namen handelt und sich auf die Übereinstimmung der Europäer in ihren gemeinsamen Werten stützt. Eines Tages werden wir dann einen Präsidenten der Europäischen Union ernennen, der, ausgestattet mit der Autorität und dem Mandat der Union, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten und dem Präsidenten Chinas auf gleicher Augenhöhe begegnet.

Andererseits müssen wir in Forschung und Wissenschaft die personellen und finanziellen Ressourcen wesentlich steigern, die Europa bereitstellt, um im Rennen um die globale Wettbewerbsfähigkeit weiterhin mithalten zu können. Die Europäische Union sollte binnen Kurzem über ein Forschungs- und Entwicklungspotenzial im Bereich der neuen Technologien verfügen, das mindestens dem derVereinigten Staaten von Amerika entspricht. Dafür muss aus dem EU-Haushalt ein stetig wachsender Anteil bereitgestellt werden, um eine „gegenseitige Befruchtung der grauen Zellen“ zu gewährleisten und eine Bündelung der Ressourcen zu ermöglichen.

Unwillkürlich stellt sich die Frage der Außengrenzen, der Erweiterungsfähigkeit und der Realisierbarkeit einer auf über 30 Mitglieder erweiterten Europäischen Union. Diese Fragen müssen wir gemeinsam lösen. Weitere Balkanstaaten werden sich – das langfristige Ziel einer EU‑Mitgliedschaft vor Augen –schrittweise an die europäischen Strukturen anpassen. Andere (ost)europäische Staaten, darunter beispielsweise die Ukraine, müssen zunächst selbst nach einer Antwort auf die Frage suchen, ob sie die Voraussetzungen für eine Annäherung an die Europäische Union – oder gar eine Mitgliedschaft – schaffen wollen. Mit Russland muss die Europäische Union stabile und geordnete Sonderbeziehungen anstreben: Die Stabilität und Sicherheit des europäischen Kontinents im 21. Jahrhundert wird auf den beiden Säulen Europäische Union und Russland sowie auf den guten Beziehungen zwischen ihnen beruhen.

Keine kulturelle Überbeanspruchung

In den nächsten Jahren wird sich der Union eine wichtige Frage stellen: Will man nur eine wirtschaftliche oder sich aus sicherheitspolitischen Erwägungen erweiternde Union, oder aber eine politische Union mit einer eigenen Europäischen Verfassung?

Wenn sie sich für die letztere Möglichkeit entscheidet – die ich mit Nachdruck befürworte –, müssen solche Überlegungen auch künftigen Beitrittsentscheidungen zugrunde gelegt werden. Viele – und dazu gehöre auch ich – sind überzeugt, dass sich beispielsweise durch einen Beitritt der Türkei nicht nur der Charakter der Europäischen Union entscheidend ändern, sondern die Europäische Union dadurch auch in geografischer, politischer, kultureller und finanzieller Hinsicht überfordert würde. Vor allem würde der Beitritt der Türkei die Gemeinschaft „überdehnen“, das heißt, die identitätsstiftende Kraft, das Gemeinsame, das die Europäer Verbindende könnte verlorengehen.

Eine Strategie für den Mittelmeerraum

Terrorismus und Immigration sind zwei weitere Aspekte, die von uns eine neue Perspektive für unsere Beziehungen mit unseren wichtigen Nachbarn im Mittelmeerraum erfordern. Uns verbinden Geschichte, Handel und auch Migration. Der Barcelona-Prozess als umfassendes Konzept der Zusammenarbeit und der gleichberechtigten Teilhabe zwischen der Europäischen Union und den südlichen und östlichen Mittelmeer-Anrainern wird an Bedeutung gewinnen mit dem Ziel, Frieden, Stabilität und Wohlstand im Mittelmeer-Raum zu sichern – durch Verringerung der Armut, Schaffung eines Raums gemeinsamen Wohlstands und gemeinsamer Werte, stärkere wirtschaftliche Integration und verstärkte politische und kulturelle Beziehungen mit den an die erweiterte Europäische Union angrenzenden Nachbarregionen. Der politische Dialog Europa-Mittelmeer soll helfen, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie wir dem Terrorismus durch eine Politik der Verständigung den Nährboden entziehen können. Dabei spielt der Dialog mit dem Islam eine entscheidende Rolle. Der Islam prägt die Menschen und die Kultur des Mittelmeer-Raumes. Wir müssen versuchen, durch eine Politik der Verständigung einen „Kampf der Kulturen“ zu verhindern, und zwar auf beiden Seiten des Mittelmeers.

Wenn die Europäische Union diese Fragen erfolgreich löst, kann sie das Vertrauen zwischen der Öffentlichkeit, den einzelnen Bürgern und Beteiligten einerseits und den Institutionen der EU und den politischen Kräften andererseits wiederaufbauen. Nur durch Dialog und gegenseitiges Verständnis hat die Einigung unseres europäischen Kontinents Aussicht auf Erfolg.

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