Bevor wir 50 Jahre in die Zukunft schauen, sollten wir zunächst einen bescheidenen Blick in die Vergangenheit werfen.Nicht weil das letzte halbe Jahrhundert irgendeinen Hinweis auf die nächsten 5 Jahrzehnte geben würde, sondern im Gegenteil, weil es zeigt, wie falsch wir mit unseren Annahmen liegen können.Unsere Prophezeiungen dürften für unsere Kinder so absurd klingen, wie die Vorhersagen aus den 60er Jahren für das Jahr 2000 über Leben auf dem Mond oder raketenbetriebene Fahrzeuge für uns absurd klangen.Und angesichts der atemberaubenden Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts werden unsere Vorhersagen noch eher danebenliegen.Vor zehn Jahren waren die Begriffe „Breitband“, „Skype“ oder „MP3“ noch so gut wie unbekannt.Heute sind sie allgemeiner Sprachgebrauch bei unseren Kindern, die sie sicher im Laufe ihres Lebens „entsorgen“ werden, so wie wir uns von Kassettenrekorder, Schallplattenspieler und Transistorradio getrennt haben.
Als für Kommunikation zuständige Kommissarin finde ich es sowohl aus beruflicher als auch persönlicher Sicht interessant, dass es bei vielen der größten Entwicklungen des letzten Jahrzehnts um die zwischenmenschliche Kommunikation ging.
Und obwohl ich nicht weiß, wie sich die Kommunikationstechnologien bis zum Jahr 2057 entwickeln werden, bin ich mir sicher, dass sie großen Einfluss auf die gute Staatsführung und die Gesellschaft haben werden.Politiker übersehen das zu ihrem eigenen Schaden.
Ich stimme der allgemeinen Ansicht zu, dass das stille Einverständnis zwischen Regierenden und Regierten sowohl national als auch supranational zusammenbricht oder zumindest eine neue Ausgestaltung erfährt.In der Nachkriegszeit mit hohem Wachstum und geringer Arbeitslosigkeit hat es in großen Teilen Europas gut funktioniert. Wo sich jedoch das Wirtschaftswachstum verlangsamt hat und die Schlangen der Arbeitslosen immer länger wurden, hat es an Legitimität eingebüßt.Die Bereitschaft der Bevölkerung, an die Fähigkeiten der Führenden zu glauben, machte oft Gleichgültigkeit, Skepsis oder offenem Zynismus Platz.
Zudem wurden in unserer postmodernen Welt die politischen, sozialen und religiösen Konzepte, die im 20. Jahrhundert die Massen mobilisieren konnten, durch eher fließende und unbeständige Auffassungen von Loyalität und Identität ersetzt.Das Ergebnis ist eine zunehmend individualisierte und vielleicht auch zersplitterte Welt. Sie spiegelt sich in der erstaunlichen Anzahl an Fernsehsendern und Internetseiten wider, eine Reaktion auf die ständig steigende Nachfrage nach mehr Auswahl.
Für die EU ist der Sachverhalt noch komplizierter.Die Gründe für ihre Entstehung gehen auf die folgenschweren Gräuel des vernichtenden Kampfes und industrialisierten Massenmordes zurück, die Europa sich selbst und der Welt zugefügt hat.Die Erinnerung daran heizte die frühe produktive Phase der Gemeinschaft an.Heute, fast fünfzig Jahre danach, sind die Vorteile dieser Dynamik überall sichtbar:das Recht, in einem Mitgliedstaat seiner Wahl zu arbeiten, zu studieren oder sich zur Ruhe zu setzen, der freie Kapital- und Warenverkehr, der freie Verkehr der meisten Dienstleistungen.Bald werden wir den weltweit größten gemeinsamen Markt haben.
Diese Vorteile wurden jedoch von den jüngeren Generationen, denen ein Krieg in Europa recht unwahrscheinlich erscheint, so verinnerlicht, dass sie für selbstverständlich gehalten werden.Tatsächlich machen sich viele Europäer die Vorteile zunutze, die sie letztlich den Gründervätern der EU verdanken, ohne sich deren Ursprungs bewusst zu sein, und schimpfen stattdessen in übelster Weise auf die „Machthaber in Brüssel“.
Eine Verbindung zum Bürger herstellen
Europa muss sich selbst also neu erfinden, indem es erstens den verwirrten und zuweilen feindlichen Wählern seine fortbestehende Bedeutung besser erklärt und zweitens mehr auf ihre Vorstellungen über die Zukunft eingeht.
Der springende Punkt ist unser Beitrag zur Gestaltung einer wirklich europäischen Öffentlichkeit, die Sensibilisierung der Bürger und ihre Einbeziehung in Entscheidungen auf EU-Ebene.Dafür gibt es viele Möglichkeiten: die Teilnahme an öffentlichen Konsultationen vor der Verabschiedung und Einleitung wichtiger Initiativen, die Teilnahme an den Wahlen zum Europaparlament, Petitionen oder die Mitgliedschaft in einer europäischen Partei oder Nichtregierungsorganisation (NRO).Ich wünsche mir, dass sich alle Bürger diesem demokratischen Prozess stärker verpflichtet fühlen, und versuche, das durch meinen „Plan D für Demokratie, Dialog und Diskussion“ zu unterstützen.Ein Anfang ist gemacht, und Europa wird in den nächsten 50 Jahren mehr davon brauchen.
Bitte mehr Demokratie und Transparenz!
Ein nächster Schritt wäre die Verbesserung der demokratischen Legitimität der EU-Institutionen in den Augen der Öffentlichkeit.Jeder zukünftige Vertrag (sei es der europäische Verfassungsvertrag oder ein Vertrag mit einem anderen Namen) muss die Ansichten der Menschen berücksichtigen, die damit zu leben haben.Wenn wir ihn rein als abgehobenes Projekt betrachten, riskieren wir dieselben Reaktionen, wie wir sie beim letzten Mal in zwei Mitgliedstaaten erhalten haben.Darüber sollten wir aber nicht vergessen, dass der im Oktober 2004 von allen Regierungen unterzeichnete Text viele wesentliche, in die richtige Richtung weisende Punkte enthielt.Das Recht der Bürger, die Kommission zu ersuchen, Gesetzesvorschläge auszuarbeiten, war einer davon – ein fundamentaler Durchbruch in partizipativer Demokratie.Die Entscheidung, alle Beratungen des Rates zu europäischen Gesetzen öffentlich zu machen, war ein anderer.Und die Bedenken, souveräne Parlamente würden im Entscheidungsprozess der EU übergangen, wurden zerstreut durch zusätzliche Möglichkeiten für die nationalen Parlamente, Gesetzesentwürfe zu prüfen.
Zudem enthielt dieser Text, der schon von 18 Mitgliedstaaten ratifiziert wurde, auch einige sehr gute Lösungsvorschläge, wie die Effizienz und demokratische Legitimität in wichtigen politischen Bereichen wie Zuwanderung, Asyl, Kampf gegen den Terrorismus oder die Rolle der EU als globaler Akteur verstärkt werden können.
Diese Themen werden uns erhalten bleiben. Hier geht es um Herausforderungen, vor denen Europa steht und die seit 2004 nur noch größer geworden sind.Auch andere Herausforderungen wie Energiesicherheit, Klimawandel, Arbeitslosigkeit und Menschenhandel werden bestehen bleiben; sie zeigen den Bedarf an einem zukunftsfähigen Europa in einer globalisierten Welt.
Inzwischen erkennen unsere Regierungen an, dass wir in Fragen wie Energiesicherheit und Klimawandel unbedingt gemeinsam handeln müssen.Die EU wird hier mehr als je zuvor gebraucht.Sie muss unter Beweis stellen, dass sie wirksame multilaterale Lösungen mit Zustimmung sowohl der Bürger als auch ihrer Vertreter liefern kann.
Wenn wir klug vorgehen, dann kann die EU im Jahr 2057 eine stärker gefestigte Einheit sein, als sie es vielleicht heute ist. Dafür müssen wir unsere institutionellen Verfahren besser aufeinander abstimmen und dafür sorgen, dass die Kommunikationstechnologie wenn schon nicht die geografische, so doch die bildliche und praktische Distanz zwischen Brüssel und dem Wähler verringert. Die EU kann für die Europäer zum gelebten Alltag werden, in dem sie wirklich wissen, wie sie ihre Vorteile nutzen und sich in und mit ihr engagieren können.
Margot Wallström:„Redet mit den Menschen!“, in "Europäische Union: die nächsten fünfzig Jahre".© Financial Times Business and Agora Projects Ltd, London, März 2007.(Mit freundlicher Genehmigung der Financial Times Business. Die Europäische Gemeinschaft hat nicht das Recht, Dritten die Vervielfältigung dieses Artikels oder seiner Übersetzungen zu gestatten. Entsprechende Anfragen richten Sie bitte direkt an FT business).